Ibbenbüren. Am 05.012.2017 war die Holocaust-Überlebende Erna de Vries bei uns in der Roncalli-Realschule zu Gast. Die 94-Jährige berichtete den Schülern der Jahrgänge 9 und 10 über
Erfahrungen. Im Anschluss bestand die Möglichkeit zum Gespräch.
Nach der Begrüßung durch Frau Lakeberg, der Fachvorsitzenden für Geschichte, begann Erna de Vries mit lauter und gefasster Stimme zu erzählen. 1943 wurde sie in Auschwitz von ihrer Mutter getrennt, die ihr zur Verabschiedung sagte: „Du wirst überleben und erzählen, was man mit uns gemacht hat!“ Um den sehnlichsten Wunsch ihrer Mutter zu erfüllen, tut sie dies immer, wenn sie darum gebeten wird, so nun auch in der Roncalli Realschule.
1923 wurde die heute 94-Jährige als Tochter von Jacob und Jeanette Korn in Kaiserslautern geboren. Bis zum Tod ihres Vaters im Jahr 1930 erlebte sie dort unbeschwerte Jahre. Bis 1935 übernahm ihre Mutter das familiäre Speditionsunternehmen. Dann verlor sie aufgrund neuer antijüdischer Gesetze die Lizenz für das Unternehmen und somit auch das monatliche Einkommen, was sich merklich auf das Leben der Familie Korn auswirkte, da diese nun von ihrem Ersparten leben musste.
In eben diesem Zeitraum begannen auch die Anfeindungen gegenüber Juden, die die junge Erna Korn nur schwer verstehen konnte. Auf einmal wurde das Wort „Jude“ als Schimpfwort benutzt. Nachdem sie die Franziskanerschule aufgrund des Geldmangels der Familie verlassen musste, kam sie in eine sogenannte „jüdische Sonderklasse“, in der sie im März 1938 ihre Schulzeit beendete.
Die Reichspogromnacht am 9.November 1938 in Deutschland brachte weitere Schikanen. Familie Korn fiel den Auswirkungen dieser Nacht einen Tag später zum Opfer und so flüchtete sie auf den christlichen Friedhof, wo Herr Korn begraben lag, um nicht dabei zusehen zu müssen, wie ihr Zuhause zerstört wurde. Erna Korn hielt es dort aber nicht lange aus und rannte zurück nach Hause. Dort wurde sie Zeugin der Zerstörung ihres Zuhauses. Eine Frau stand neben ihr, die ihr schon zuvor feindlich gesinnt war (und die Frau de Vries als „glühende Nationalsozialistin“ bezeichnete) und rief: „Jetzt heult sie, schmeißt sie rein in den Krempel.“ An diese Situation kann sich Frau de Vries noch sehr lebhaft erinnern. Am selben Tag verwies die Stadt Kaiserslautern alle Juden der Stadt. Von einer Nachbarin erhielt Familie Korn trotz Denunzierungsgefahr Koffer, um die wenigen übrig gebliebenen Gegenstände zusammen zu packen und zu Verwandten nach Köln zu ziehen.
Während ihre Mutter es dort nicht lange aushielt und trotz Ausweisung zurück nach Kaiserslautern ging, um dort das Zuhause, so gut es eben ging, wieder aufzubauen, blieb Erna de Vries in Köln, um eine Ausbildung zur Krankenpflegerin zu beginnen. Als dann aber die Deportationen begannen, fürchtete sie, dass ihre Mutter deportiert werden würde ohne dass sie davon etwas mitbekommen würde. Deshalb kehrte auch sie nach Kaiserslautern zurück. Dort begann sie in einer Eisengießerei ganz in der Nähe ihres Zuhauses zu arbeiten.
Am 06.07.1943 stand auf einmal ein Nachbar vor der Eisengießerei und teilte Erna mit, dass sie schnell nach Hause laufen solle: Ihre Mutter soll deportiert werden. Da Erna ihre Mutter auf keinen Fall alleine gehen lassen wollte, überredete sie den Gestapomann entgegen dem Wunsch von Jeanette Korn – sie ebenfalls mitzunehmen. Im Gefängnis Saarbrücken wurde ihr mitgeteilt, dass ihre Mutter nach Auschwitz deportiert werden soll. Frau de Vries wies in ihrem Vortrag darauf hin, dass sie sehr wohl zu diesem Zeitpunkt wusste, was Auschwitz war, da sie verbotenerweise ein Radio zu Hause hatten, mit dem sie BBC London hören konnte. Trotzdem bat sie darum, ihre Mutter begleiten zu dürfen, und so wurden Jeanette und Erna Korn gemeinsam deportiert.
Nach vier Wochen im Quarantäne-Block wurden sie in einen normalen Block verlegt und zu Zwangsarbeit – Schilf aus einem nahe gelegenen Tümpel zu schiffen – eingeteilt. Durch die Lebensumstände im Lager bekam Erna Korn schlimme Wunden an den Beinen, die schließlich zu ihrer Selektierung in den Todesblock 25 führte. Eine Nacht verbrachte sie dort im Bewusstsein, dass am nächsten Tag die Gaskammer wartete. Am Morgen fuhren Lastwagen vor, um die Frauen zu den Gaskammern zu transportieren.
„Es war ein großes Durcheinander. Alle wussten, was passieren sollte und wohin uns die LKWs fahren würden. Die Frauen schrien und drangen nach hinten. Ich bin einfach zu Boden gesunken. Dort liegend hatte ich nur noch einen Wunsch: Ich wollte noch einmal die Sonne sehen. Ich habe nur immer hoch zum Himmel geschaut und als die Sonne kam, war ich getröstet und in keinem Moment verzweifelt und so betete ich: ‚Ich will leben aber so wie du willst‘.“, erzählte Frau de Vries ruhig.
Doch in letzter Minute wurde sie verschont. Dass ihr Vater Christ war, rettete Erna Korn das Leben. Als „Halbjüdin“ sollte sie in das Konzentrationslager Ravensbrück verlegt werden, um in der Rüstungsindustrie zu arbeiten. Im Lager Ravensbrück blieb Erna Korn, bis es im April 1945 geschlossen wurde und sie, begleitet durch SS-Männer, auf den Todesmarsch geschickt wurden. Als sie kurz davor war aufzugeben und einfach liegen zu bleiben, kam den Frauen ein Amerikanischer Jeep entgegen und plötzlich begriffen die Frauen: „Wir waren frei!“.
Im Anschluss stellten die Schülerinnen und Schüler Fragen: Danach, wie sie sich zu bestimmten Zeiten in ihrer Lebensgeschichte gefühlt hatte, warum sie Deutschland nie verlassen hat und wie sie ihren Mann kennengelernt hatte. Frau de Vries erzählte stolz von ihrer Familie, ihren Kindern und Enkelkindern, die ihr Kraft gegeben haben, um mit ihrer Geschichte weiterzuleben. Darüber hinaus erzählte sie, wie ihr Leben direkt nach der Befreiung weiter verlief und wie sie heutigen rechten Geschehnissen in der Gesellschaft kritisch gegenüber steht. Eine Schülerin fragt zuletzt, ob es irgendetwas gebe, was Frau de Vries den Schülerinnen und Schülern mit auf den Weg geben möchte. Auf diese Frage hin antwortete Frau de Vries mit dem Wort „Mitmenschlichkeit“: Man sollte die Menschen so nehmen, wie sie sind und auch das Anderssein akzeptieren. Außerdem betonte sie, dass sie die Menschen nicht vergessen kann, die ihr und ihrer Familie in den schlimmen Zeiten mit Essen, Gesten oder Gegenständen aushalfen. Denn auf diese Weise schenkten sie ihr Kraft und Zuversicht, weiter an das Gute im Menschen glauben zu können. Darauf legte Frau de Vries bei ihrem Vortrag immer wieder großen Wert. Sie bedankte sich für die Aufmerksamkeit, die ihrer Geschichte entgegengebracht wird.